Der Sommer 2022 – oder das Leben nach Corona - Ein Gedankenspiel
Die Corona Pandemie unterscheidet sich fundamental von den zuletzt erlebten Krisen. Sie ist allgegenwärtig und betrifft jeden, egal wie und wo er lebt. Das Virus ist aufgrund seiner exponentiellen Ausbreitung kaum isolierbar und kennt keine geographischen Grenzen. Dennoch fehlt es an einer geeigneten Koordination der Gegenmaßnahmen im nationalen wie globalen Kontext. Auch deshalb ist die Unsicherheit besonders groß. Umso wichtiger ist es, eine Ahnung von den möglichen zukünftigen Entwicklungen zu haben.
Nehmen wir einmal an, im Sommer 2022 ist der Großteil der Bevölkerung hierzulande geimpft, und nehmen wir weiter an, in vielen bevölkerungsreichen Staaten ist die Herdenimmunität weit fortgeschritten. Das Virus ist nicht besiegt, aber wir haben gelernt, mit ihm und seinen Mutationen zu leben. Aber was heißt das nun für unseren Alltag, für Politik und Wirtschaft und nicht zuletzt auch für die Kapitalmärkte?
Die Antwort darauf ist vielschichtig und maßgeblich von zwei Faktoren geprägt:
die Dauer der Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen,
die Art der wirtschaftspolitischen Reaktionen auf die Pandemie – systemerhaltend vs. systemerneuernd.
Während gerade zu Beginn der Krise die Bedeutung der strukturerhaltenden Maßnahmen wie Kurzarbeit besonders groß ist, sollten strukturerneuernde Maßnahmen den Vorzug bekommen, je länger die Krise dauert. Der richtige Mix, Timing und Dosierung der Maßnahmen sind Herausforderungen, vor denen die Entscheidungsträger seit mehr als einem Jahr stehen.
Vor diesem Hintergrund wird sich unser Leben bis zum Sommer 2022 verändert haben, aber wir wissen noch nicht wie. Doch bereits heute zeichnet sich ab, dass der (technologische) Wandel der wesentliche Treiber der Entwicklung sein wird und viele seit längerem zu beobachtenden Tendenzen weiter beschleunigt und verstärkt.
So wird im Schnitt der Anteil von „online“ weitaus höher bleiben, als wir das vor Corona kannten. Auch in Zukunft werden wir mehr online kaufen als in der Zeit vor Corona. Und selbst Unternehmen mit eher verkrusteten Strukturen etablieren Homeoffice als festen Bestandteil in ihre Arbeitsabläufe. Die damit einhergehende Digitalisierung dringt unaufhaltsam in unseren Alltag ein, ob wir wollen oder nicht.
Gleichzeitig werden sich aber auch Bedürfnisse verändern, wenn erste Nachholeffekte wieder verpufft sind. Natürlich wird ein Teil der Menschheit nach der Pandemie so weitermachen wie bisher, doch beim anderen Teil dürfte sich das generelle Sicherheitsbedürfnis längerfristig erhöhen. Dies könnte zum Beispiel die Beibehaltung der Abstandsregeln zumindest in abgeschwächter Form sein. Davon wären Reisen auf Kreuzfahrschiffen oder Massenveranstaltungen betroffen.
Auch die eigene finanzielle Risikovorsorge dürfte eine größere Rolle spielen, zumal die Reserven der unmittelbar vom Lockdown Betroffenen oft arg in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Somit sollte es nicht verwundern, wenn die Sparquote zulasten des Konsums in Zukunft nachhaltig höher ist. Auch auf die Risikovorsorge des Staates dürfte mehr Wert gelegt werden, sei es in Form höherer strategischer Reserven bei medizinischen Geräten und Produkten oder Energiereserven.
Doch was hat das alles für Konsequenzen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft?
Während viele Arbeitnehmer gleichsam am Küchentisch ihr Büro aufschlagen, steht immer mehr Bürofläche dauerhaft leer. Der kurze Dienstweg zu den Kollegen, die zuvor eine Tür weiter waren, wird länger, wohingegen der Draht zu Kollegen an anderen Standorten dank der nun genutzten technischen Möglichkeiten kürzer sein wird. Sogar Konferenzen und Messen lassen sich online abhalten, was den Geschäftsreiseverkehr massiv reduzieren wird. Der Wissenstransfer wird effizienter, die zwischenmenschliche Interaktion mit Kollegen und Geschäftspartnern dagegen weniger.
Dadurch geraten ganze Branchen auch nach überstandener Krise ins Wanken wie Luftfahrt, Hotellerie und Teile der Gastronomie, die sich strukturell auf weniger Umsatz aus dem Bereich „Business“ einstellen müssen. Während große Unternehmen wie die Lufthansa und die TUI bereits als systemrelevant eingestuft worden sind und vom Staat zumindest bislang gerettet wurden, steht bei vielen kleineren Betrieben zu befürchten, dass sie auch nach Beendigung des Lockdowns nicht nachhaltig profitabel wirtschaften können.
Wie hoch der Anteil der Unternehmen und ganzer Industriezweige ist, der sich in und nach der Corona-Krise gleichsam neu erfinden muss, hängt maßgeblich von der Dauer der Krise und der Art der Wirtschaftspolitik ab. Die Zeitschrift The Economist prägte zunächst den Begriff der „90 % Ökonomie“, in dem der Großteil der Volkswirtschaft in den Zustand vor der Krise zurückkehren können, wohingegen 10 % ihre Geschäftsmodelle neu aufstellen müssen. Voraussetzung für dieses Szenario ist jedoch ein schnelles Ende der Krise bei dominierenden strukturerhaltenden wirtschaftspolitischen Maßnahmenpaketen.
Die Wirtschaftsprüfer von EY Österreich stellten diesem Szenario die „50 % Ökonomie“ als Gegenthese gegenüber. Sie argumentieren, dass sich immer größere Teile der Wirtschaft dem Redesign unterwerfen müssen, je länger die Krise dauert und je mehr sich die Regierungen tatsächlich zu einer immer konstruktiveren und damit strukturerneuernden Wirtschaftspolitik durchringen können. Die Wahrheit im Sommer 2022 wird vermutlich irgendwo zwischen diesen beiden Extremen liegen.
Eine Branche mit einer besonders hohen Veränderungsdynamik durch sich wandelnde Arbeitsabläufe und Lebensgewohnheiten ist die Immobilienbranche, wobei hier Gewinner und Verlierer dicht beieinander liegen. Beispielsweise sollte der Bedarf an größerem und dennoch erschwinglichem Wohnraum umso mehr steigen, je stärker Homeoffice etabliert wird. Hiervon könnten sogar Regionen profitieren, die bislang unter Wegzug litten.
Der Verlierer dieser Entwicklungen sind Gewerbeimmobilien, denn immer mehr Firmen werden sich nach kleineren Einheiten umsehen, sobald ihre Mietverträge auslaufen. Bereits jetzt schon hat der Leerstand in Berlin um fast ein Drittel zugenommen.
Zudem beschleunigt sich das Sterben traditioneller und oft auch traditionsreicher Geschäfte durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Dies stellt Städteplaner vor enorme Herausforderungen, denn Fußgängerzonen mit geschlossenen Geschäften und Schaufenstern hinter Holzverschlägen sind ihr Albtraum. Es bleibt abzuwarten, was mit den riesigen, freiwerdenden Flächen passiert, wenn Karstadt, Kaufhof & Co. wie angekündigt schließen. Doch bei all diesen Veränderungen auf den Immobilienmärkten wird sich deren wichtigstes Kriterium nicht verändern: Lage, Lage, Lage.
Die beschriebene Tendenz zu mehr „online“ benötigt vor allem eines, und zwar ein zuverlässiges Mobilfunk- und Glasfasernetz. Nicht nur Unternehmen müssen in digitale Infrastrukturen als strategisches Asset investieren, sondern insbesondere auch der Staat, der nicht nur die digitale Infrastruktur in Schulen und Behörden nachrüsten, sondern auch den Ausbau dieser Netze forcieren muss, um die Standortqualität zu sichern. Bereits vor der Corona-Krise nannten aus dem Ausland nach Deutschland entsandte Mitarbeiter die digitale Infrastruktur als einen der größten Standortnachteile.
Große Strukturveränderungen wie die Digitalisierung und Automatisierung der Wirtschaft erfolgen nicht linear, sondern in Schüben. Bislang überdecken staatliche Maßnahmen noch vieles, doch wenn sie zurückgefahren werden, treten deren Folgen unmittelbar zu Tage.
Die Bewältigung der daraus entstehenden Herausforderungen wird neben dem Klimawandel die nächsten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte prägen. Im Sommer 2022 werden wir erst einen kleinen Teil des Weges gegangen sein. Insofern können wir an dieser Stelle nur Denkanstöße geben:
Automatisierung und künstliche Intelligenz erlauben es zwar, die globale Arbeitsteilung in Teilen wieder zurückzudrehen, führen aber auch zu einem Anstieg der Arbeitssubstitution, zu Konzentrationstendenzen und oligopolistischen Strukturen. Verlierer sind viele traditionelle Industrien, kleine und mittlere Betriebe sowie deren Arbeitnehmer.
Auf den Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit kann der Staat mit herkömmlichen, systemerhaltenden oder innovativen, systemerneuernden Maßnahmen reagieren. Doch vor dem Hintergrund wachsender sozialer Ungleichheit wird der Ruf nach Regulierung und Umverteilung tendenziell lauter werden. Hinzu kommt die Benachteiligung der jüngeren Generation, die sich in den Industriestaaten mit der Last hoher Schulden und der Hypothek alternder Gesellschaften konfrontiert sieht.
Die Corona-Krise belastet die ohnehin stark strapazierten Staatsfinanzen. In der Folge drohen höhere Steuern auf Einkommen und Vermögen, was vor allem zu Lasten von Unternehmern und Immobilienbesitzern gehen dürfte (Umverteilung). Dennoch können höhere Steuern und Abgaben die inzwischen aufgehäuften Schulden nicht abtragen.
Viele Regierungen sind deshalb auch weiterhin auf die Mithilfe der Notenbanken angewiesen, die bereits seit der Finanzkrise 2008 als Krisenmanager aktiv sind. Allerdings stehen die Notenbanken ohne konstruktive Unterstützung reformwilliger und -fähiger Regierungen vor einem Dilemma. So kann die EZB den Konstruktionsfehler des Euro, gemeinsame Währung bei getrennten Haushaltskassen, nicht beseitigen. Und die US‑Notenbank FED sah sich jüngst sogar genötigt, vom Gleichgewicht ihrer dualen Zielsetzung, Geldwertstabilität und Vollbeschäftigung, zugunsten des Arbeitsmarktes abzurücken.
Was bedeutet das nun für die Kapitalmärkte?
Gerade die ausufernde Staatsverschuldung gepaart mit einer Ausweitung der Geldmenge in den Industriestaaten spricht nach klassischer Lehre für ein höheres Preisniveau. Die großen Notenbanken haben angekündigt, die Zinsen noch lange auf einem sehr tiefen Niveau zu halten, und sie dürften auch vor weitreichenden Markteingriffen nicht zurückschrecken.
Grundsätzlich liegt es im Interesse hochverschuldeter Staaten, wenn die Inflation anzieht, da dies die Rückzahlung der Schulden erleichtern würde. Gleichzeitig ist es auch in ihrem Interesse, dass das Zinsniveau tief bleibt, um die zusätzliche Zinslast der gigantischen Neuverschuldung zur Pandemiebekämpfung finanzierbar zu halten.
Die Gründe für eine deutlich anziehende Inflation sind ebenso überzeugend wie jene dagegen: z. B. die alternde Bevölkerung in den Industriestaaten oder die preisdämpfenden Effekte der Digitalisierung. So schaffen es Japan und die Eurozone seit Jahren nicht, ihr Inflationsziel von 2 % zu erreichen.
Wir wissen nicht, ob bzw. mit welcher Intensität und wie nachhaltig inflationäre Kräfte überhandnehmen werden. Allerdings sollte es keine Überraschung sein, wenn die Inflationsraten im Sommer 2022 zumindest vorübergehend höher sein werden als heute. Davon betroffen sind vor allem solche Anleger, die alleine schon aus regulatorischen Gründen zum Halten von Anleihen gezwungen sind wie Versicherungen und Pensionskassen.
Ein immer wieder beschriebener Ausweg sind Immobilien oder unternehmerische Anlagen wie Aktien oder Immobilien. Dies gilt umso mehr, als die Notenbanken die Zinsen noch lange auf tiefem Niveau belassen wollen und die Märkte dadurch mit überreichlicher Liquidität versorgen. Für Investoren, die sich darauf verlassen, besteht die Gefahr, dass sich irgendwann die eingegangenen Risiken und ihre Risikotoleranz nicht mehr in Einklang befinden oder sie zu hohe Anteile ihres Vermögens in illiquiden Anlagen gebunden haben.
Gerade deshalb kommt es auf die Qualität der Unternehmen und die Widerstandsfähigkeit der Geschäftsmodelle an. Insofern könnte zukünftig eine aktive Auswahl der Investitionsobjekte für den Anlageerfolg wieder wichtiger werden, wenn Gewinner und Verlierer dicht beisammen sind, zumal die Regulierung ganzer Branchen bereits angedacht wird.
Wir werden gerade Zeuge eines gewaltigen Strukturbruchs, denn nichts ist disruptiver als ein Virus. „Die Geschichte zeigt, dass Epidemien die großen Umwälzungen in der Wirtschaft und im sozialen Gefüge vieler Länder herbeiführten“, sagt Klaus Schwab, der Initiator des Weltwirtschaftsforums in Davos. Heute stehen uns sehr große geopolitische Veränderungen bevor: die neue geopolitische Blockbildung – USA versus China – entlang der Linie unterschiedlicher Technologiestandards. Aber auch aus rein deutscher Sicht könnte die Bundestagswahl im Herbst die seit 16 Jahren regierende Union in die Opposition verbannen.
Aber Epidemien lösten auch immer wieder Innovationen aus. Dadurch eröffnen sich wieder neue (Investitions-)Möglichkeiten. Allerdings erfordert dies entsprechende Rahmenbedingungen seitens des Staates, die Forschung und Eigeninitiative begünstigen und das freie Spiel der Marktkräfte weitgehend zulassen.